Nachbarrecht

Äste bis zur Grenze „abgesäbelt“ – Schadensersatz!

Klar ist zunächst: Wer Äste und Zweige seiner Bäume und Sträucher über die Grenze auf das Nachbargrundstück herüber wachsen lässt, sieht sich im Falle einer daraus folgenden Beeinträchtigung in der Grundstücksnutzung Rückschnittansprüchen und Selbsthilferechten seiner Nachbarn ausgesetzt (§§ 1004, 906, 910 BGB).

Wird der beschnittene Baum dadurch in seiner Standfestigkeit unsicher oder geht er gar aufgrund eines zu radikalen notwendigen Rückschnitts kaputt, soll das nach Auffassung des Bundesgerichtshofs keine Ersatzansprüche nach sich ziehen (BGH, Urteil vom 11.6.2021 - V ZR 234/19, ZMR 2022, 763). Denn: Wer es als Baumeigentümer duldet, dass seine Pflanze so groß wird und zulasten der Nachbarn über die Grenze ausufert, beachtet das Gesetz nicht und muss für die Folgen in jedem Falle einstehen, so der BGH im Ergebnis. Schließlich sei der Nachbarn Baumeigentümer selbst schuld, wenn er den Baum so lange hat wachsen und über die Grenze hinaus überwachsen gelassen hat. Denn er sei gesetzlich verpflichtet auf einen zulässigen Grenzabstand und auf ein zulässiges Höhenwachstum, das seinerseits den Grenzabstand bestimmt, zu achten.

Es ist auch nicht so, dass nur die Wurzeln entfernt werden müssen, die zu einer konkreten Beschädigung von Grundstücksteilen beim Nachbarn des Baumeigentümers führen, wie zum Beispiel seiner Garage. Hinüberwachsende Wurzeln sind durch den Pflanzeneigentümer grundsätzlich zu vermeiden. „Passieren“ sie die Nachbargrenze, kann grundsätzlich gekappt werden (LG Frankenthal, Urteil vom 11.8.2021 - 2 S 132/20, ZMR 2022, 765).

Ein Fallbeispiel

Soweit die „eine Seite der Medaille“. Nun betrachten wir ihre „zweite Seite“ an dem folgenden Fall: E, Eigentümer alten Baumbestandes, gestattet Nachbarn N, auf dessen Grundstück herübergewachsene Äste und Zweige bis zur Grenzlinie zu kürzen. Eine Birke wies nach dem Rückschnitt keine Blätter mehr auf. Ein kurz vor der Ernte stehender Kirschbaum wurde ebenfalls vollständig eingekürzt. Das „Überleben“ beider Bäume ist ungewiss. Er verlangt von M Schadenersatz für die „Wiederherstellung gleichwertiger Bäume“ in Höhe von 35.000 €. Erstinstanzlich wurde der Zahlungsklage in Höhe von 4000 € stattgegeben; entscheidend sei lediglich die Wertminderung sowie die Entsorgungskosten nach dem Radikalschnitt.

Das OLG Frankfurt hebt das erstinstanzliche Urteil auf, erkennt ganz anders als der BGH Schadensersatz dem Grunde nach zu und verweist in der Sache an die untere Instanz zurück (Urteil vom 6.2.2024 - 9 U 35/23, MDR 2024, 635 = IMR 2024, 302).

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Naturalrestitution oder Teilwiederherstellung

Beide Bäume seien zerstört. Dann sei Schadensersatz allerdings nicht in der Form einer Wiederherstellung (Naturalrestitution) zu leisten. Denn das zöge eine Ersatzbeschaffung eines vergleichbar ausgewachsenen Baumes nach sich. Dies aber sei mit besonders hohen und deshalb unverhältnismäßigen Kosten verbunden (ebenso: BGH, Urteil vom 13.5.1975 - VI ZR 85/74 , VersR 1975, 1047; BGH, Urteil vom 25.1.2013 - V ZR 222/12, BGHZ Bd. 196, 111; OLG Frankfurt , Beschluss vom 5.2.2014 - 15 U 2/12, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.7.2003 - 1-7 U 12/03, VersR 2005, 1445 ff; OLG Celle, Urteil vom 9.12.1982 - 5 U 69/82, VersR 1984, 69 ff; OLG München, Urteil vom 26.11.2020 - 29 U 2518/20, juris, Rn. 27; OLG Düsseldorf, Urteil vom 5.8.2009 - I-15 U 100/08, juris Rn. 43).

Schadensersatz sei stattdessen durch eine sogenannte „Teilwiederherstellung“ zu leisten, also durch eine Anpflanzung eines neuen jungen Baums sowie einen Ausgleichsanspruch für die zu schätzende Werteinbuße des Grundstücks (Berechnung nach der Methode Koch; ebenso BGH, Urteil vom 25.1.2013 - V ZR 222/12, BGHZ Bd. 196, 111 Rn. 7; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5.2.2014 - 13 U 2/12, juris Rn. 14; OLG Koblenz, Urteil vom 13.6.1997, juris Rn. 10; OLG Celle, Urteil vom 9.12.1982 - 5 U 69/82, a. a. O.; vgl. auch OLG Frankfurt, Urteil vom 31.1.2005 - 12 U 256/01, juris Rn. 36 ff; OLG Brandenburg, Urteil vom 8.2.2018 - 5 U 109/16, juris Rn. 45 ff; OLG Düsseldorf, Urteil vom 5.8.2009 - I-15 U 100/08, juris Rn. 43; OLG Karlsruhe, Urteil vom 17.1.2023 - 12 U 92/22, juris Rn. 69; OLG Hamm, Urteil vom 18.2.2002 - 5 U 120/01, NuR 2005, 276 f).

Nur ausnahmsweise seien die vollen Wiederbeschaffungskosten zuzuerkennen, wenn Art, Standort und Funktion des Baums für einen wirtschaftlich vernünftig denkenden Menschen den Ersatz durch einen gleichartigen Baum zumindest nahelegen (so: BGH, a. a. O.). Entscheidend ist damit die Funktion des zerstörten Baums für den Umfang des Wertersatzes. Dazu ist vorzutragen (zur Berechnung nach der Methode Koch in diesem Fall: Koch, VersR 1984, 69 f - zustimmende Anmerkung zu OLG Celle, Urteil vom 9.12.1982 - 5 U 69/82, NJW 1983, 2391).

Kommt es zum Beispiel auf ein geschlossenes Bild an, kann dies den Ersatz des „ausgewachsenen Baums“ rechtfertigen, nicht nur den eines jungen Baums. Der klagende E hatte im Rechtsstreit erklärt, er habe mit einer aufwändigen und naturnahen Gartengestaltung Lebensraum für Fische, Frösche, Vögel und sonstige Kleintiere schaffen wollen. Auch sei ihm ein Beitrag zur Umwandlung von Kohlendioxid in Sauerstoff durch die Fotosynthese der Bäume wichtig. Weil diese Argumente zur Funktion des zerstörten Baums durch die Vorinstanz unbeachtet geblieben sind, hat das OLG Frankfurt zurückverwiesen.

Fazit

Die Quintessenz, angelehnt an Leitsatz 2 des Urteils: Ist der Schadensersatz in der Regel als „Teilwiederherstellung“ festzusetzen, und kommt es neben der Anschaffung eines jungen Baums auf die Werteinbuße für das Grundstück dafür an, dass nun anstatt des alten Baums eine junge Ersatzpflanze dort steht, so ist diese Werteinbuße nach § 287 ZPO durch das Gericht nach der „Bewertungsmethode Koch“ zu schätzen. Zu kapitalisieren sind dann die für die Herstellung des geschädigten Baums bis zu seiner Funktionserfüllung erforderlichen Anschaffungs-, Pflanzungs- und Pflegekosten sowie das Anwachstumsrisiko. Von diesem ermittelten Wert sind abzuziehen eine Alterswertminderung, Vorschäden und sonstige wertbeeinflussende Umstände.

Rechtsanwalt Dr. Hans Reinold Horst, Hannover / Solingen

Praxistipp

Um dem Schadensersatzrisiko zu begegnen, sollte der Anspruchsberechtigten einen Fachbetrieb mit dem Rückschnitt der Pflanzen beauftragen und bei extremer notwendigen Beschneidungen ein Gutachten zur „Verträglichkeit“ dieses Eingriffs einholen. So schafft man sich im Falle eigener Inanspruchnahme Regressmöglichkeiten. Die anfallenden Kosten können als Aufwendungsersatz gegenüber dem Baumeigentümer liquidiert werden.